Dienstag, 27. August 2013

Armut macht Kinder ungebildet – und krank

Foto: Thommy Weiss / Pixelio
Sie sind blass und übergewichtig, ihr Immunsystem ist geschwächt und ihre Entwicklungschancen sind schlechter: Jedem sechsten Kind in Deutschland erschwert der Hartz IV-Regelsatz eine adäquate Ernährung, das sind etwa 2,5 Millionen Betroffene in Deutschland

Oft fallen sie schon in der Schule aus und leiden nach schlechtem Berufsstart doppelt so häufig an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes. „Der soziale Aufstieg wird so bereits am Küchentisch erstaunlich effektiv blockiert“, beklagt Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski, Sprecher des Sachverständigenbeirates der Ernährungsinformation der Universität Hohenheim. Aus Sicht der Ernährungsmedizin habe beispielsweise der ARD-Tatort „Jagdzeit“ vom 10. April 2011 die Umstände und Wirkungsmechanismen im Leben armer Kinder in Beziehung zu ihrer Ernährungssituation erstaunlich realistisch wiedergegeben.

Auf den ersten Blick scheint alles im Lot in Deutschland – auch auf den Kindertellern. „Von den Verantwortlichen der Nationalen Verzehrsstudie (NVS II) hört man in Deutschland gäbe es ab dem 14. Lebensjahr keinen Vitaminmangel“, zitiert Prof. Dr. Biesalski.

„Wenn damit schwere Mangelzustände mit klassischen Krankheitsbildern gemeint sind, ist das korrekt. Damit geht man jedoch ganz offensichtlich darüber hinweg, dass laut Ergebnissen derselben Studie ein Großteil der Bevölkerung die empfohlene Menge einiger wichtiger Nährstoffe – zum Beispiel Folsäure, Vitamin D, Calcium, Vitamin E und andere – nicht erreicht“, so Prof. Dr. Biesalski weiter.

So helfe es wenig, wenn „von verschiedenen Seiten gebetsmühlenartig ertönt, jeder könne sich gesund ernähren“, moniert der Ernährungsmediziner. „Jeder kann es – wenn er genügend finanzielle Mittel zur Verfügung hat und auch ausreichendes Wissen darüber, was gesunde Ernährung ist.“ In armen Familien zwinge der Kostendruck dagegen zu preiswertem, einseitigem Essen. „Das sind fast automatisch die billigeren Lebensmittel mit höherem Energiegehalt – vor allem fett, aber ansonsten ernährungsphysiologisch nicht ausreichend.“

Realistische „Tatort“-Heldin

Die Realität von Armut habe der Tatort fast lehrbuchartig illustriert, als er die Filmheldin Nessi übergewichtig beim Einkauf zwischen Einmachgläsern und Raviolibüchsen zeigte. „Selbst bei Lebensmitteldiscountern sind Ausgaben von mindestens 5 € pro Tag und Kind notwendig, um eineErnährung zusammenzustellen, die ohne jeden Bioanspruch das Prädikat ‚Gesund’ auch nur annähernd verdient“, so Prof. Dr. Biesalski. Der Hartz-IV-Regelsatz sehe für Kinder zwischen 2. und 6. Lebensjahr dagegen nur 2.62 € und zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr 3.22 € pro Tag vor – gerade die Hälfte des Minimums.
Die Folge: „Wir bekommen eine soziale Auswahl, die den Armen von Kind an eine ausreichende Leistungsfähigkeit verweigert – und damit die Grundlage für gute Ausbildung und beruflichen Erfolg“, kritisiert Prof. Dr. Biesalski. Die schlechte Vitaminversorgung schwäche bereits im Kindesalter das Immunsystem und mache die Betroffenen anfällig für Krankheit und Fehlzeiten in der Schule.
„Kinder aus armen Familien sind doppelt so häufig krank und übergewichtig – auch das ist ein Ergebnis aus deutschen Erhebungen. Langfristig begünstigt das Fehlen der zitierten Mikronährstoffe die Entwicklung chronischer Erkrankungen: Arteriosklerose, Diabetes und andere. Aus 2,5 Millionen Kindern, die sich aufgrund Armut fehlernähren, werden Erwachsene mit einem doppelt so hohen Risiko für Bluthochdruck und Diabetes, wie schwedische und US-amerikanische Studien kürzlich eindrucksvoll gezeigt haben.“

Vorbeugung gegen chronische Erkrankungen im Kindesalter

Diesen Krankheiten im Kindesalter vorzubeugen ist nach Meinung des Mediziners eine gesellschaftliche Aufgabe: „Im Erwachsenenalter kann es dafür zu spät sein.“ Eine Lösung sei die Einführung einer gesunden Ernährung in Ganztagsschulen und Kindertagesstätten, wie sie im Rahmen des Bioethikforums des Deutschen Ethikrates 2007 gefordert wurde.

„Diese sollte eigentlich für alle Kinder – wie zum Beispiel in Skandinavien – zumindest aber für Kinder von Geringverdienern unentgeltlich sein“, meint Prof. Dr. Biesalski. Denn: „Es nutzt wenig, auf die Möglichkeiten einer gesunden Ernährung hinzuweisen, wenn denen, die eine solche gesunde Ernährung ganz besonders brauchen, diese aus ökonomischen Gründen nicht zugänglich ist.“ (sfr / idw)

 
 

 

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